Europawahl 2019: Ausbreitung des #HitlerHerpes
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Europawahl 2019: Ausbreitung des #HitlerHerpes

Als Europa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, sah es sein Antlitz durch ein ungeheures Ungeziefer verwandelt, den #HitlerHerpes. Die Schlagzeile der Europawahl lautet, dass die Rechtspopulisten zwar gewonnen haben, ihr Sieg aber verhaltener ausfällt als erwartet. Betrachtet man Europa als Ganzes, hat der politische Rechtsrutsch kaum stattgefunden. Betrachten wir einzelne Länder wie zum Beispiel Italien, wo die Lega 34% der Stimmen holte, sieht das Bild etwas anders aus. Ausserdem können sie einen moralischen Sieg beanspruchen, weil wir sie gnädig «Rechtspopulisten» nennen. «Populist» ist zwar in unseren Breitengraden mehr Schimpfwort als Kompliment. Dennoch ist es ein Begriff, der den rechtsautoritären Wölfen im Schafspelz in keiner Weise die demokratische Tolerierbarkeit ihrer Positionen abspricht. Besser wäre es das Wolfskind beim Namen zu nennen: Es handelst sich um Rechtsautoritäre die vom HitlerHerpes befallen sind.

HitlerHerpes ist keine Wortschöpfung aus meiner kreativen Feder. 2003 drohte der rechtsautoritäre Hamburger Innensenator Ronald Schill dem damaligen Bürgermeist Ole von Beust damit, er werde veröffentlichen, dass von Beust seinen angeblichen Lebenspartner zum Justizsenator ernannt habe. Daraufhin entliess der Bürgermeister seinen den Innensenator. Der unrühmliche Hickhack hatte bei Schill seine Spuren hinterlassen und so wurde er von einem Fotografen mit den Überresten eines Herpes auf seiner rechten Oberlippe abgelichtet. Diese «braunen Krusten» haben einen Kommentator der TAZ zu einem humoristischen Beitrag verleitet. Der HitlerHerpes war geboren.

Wer selber unter Herpesviren leidet weiss, dass der undankbare Kumpan immer dann anklopft, wenn man ihn am wenigsten gebrauchen kann. Meist wenn man gestresst ist, schlecht oder gar nicht geschlafen hat, einen Schicksalsschlag erdulden muss oder Sorgen hat und unruhig ist. Herpesviren werden vom Immunsystem nie vollständig bekämpft, sondern lediglich in Schach gehalten. Ist das Immunsystem geschwächt, kann der Virus wieder ausbrechen. Bezogen auf das demokratische Immunsystem Europas darf uns die Konjunktur des HilterHerpes nicht verwundern in einer Zeit, in der dieses Immunsystem massiv geschwächt ist.

Schwächung des demokratischen Immunsystems im Zuge der Finanzkrise

Eingeleitet haben diese Schwächung nicht die Rechtsautoritären selbst. Vielmehr erklärt sie sich aus der Finanzkrise von 2008 und dem Fehlverhalten der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Die daraus entstandene Unzufriedenheit mit der Führungsriege konnte durch die Rechtsautoritären zwar geschickt ausgenutzt werden. Um den Vertrauensverlust breiter Schichten zu verstehen, spielt allerdings nicht nur das Fehlverhalten der Elite als Ursache der Krise eine Rolle. Entscheidender für die Schwächung des demokratischen Immunsystems ist, wie die Eliten nach dem Ausbruch der Finanzkrise auf diese reagiert haben.

In einem Artikel in «le monde diplomatique» fassen Serge Halimi und Pierre Rimbert diese Reaktion als «Das Volk wählt, aber das Kapital entscheidet» zusammen. Beispiel gefällig? Die Griechen stimmten 2015 mit über 60 Prozent gegen die Sparauflagen der Troika. Diese wurden ihnen trotzdem aufgezwungen. Auch in Deutschland regte sich Widerstand gegen die Rettungsprogramme – wenn auch aus anderen Gründen – und gerade die Zitate von Mitgliedern der deutschen Regierung brachten in diesem Zusammenhang ein befremdendes Demokratieverständnis zum Ausdruck. Vom damaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble stammt die Aussage: «Man kann nicht zulassen, dass Wahlen die Wirtschaftspolitik beeinflussen.» Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte zu den Eurorettungsprogrammen an einer Presskonferenz, man müsse Wege finden die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, «dass sie trotzdem marktkonform ist».

Alternativlosigkeit statt Orientierung in der Krise

Was eine Krisensituation wie jene der Finanzkrise von 2008 charakterisiert, ist eine Entscheidungssituation, die problematisch ist und mit einem Wendepunkt verknüpft ist. Merkels Strategie bestand darin, ihre Entscheidungen nicht als eine Wahl zwischen Alternativen darzustellen. Sie orientierte sich an Margaret Thatchers neoliberaler Formel «TINA» (there is no alternative) und begründete zahlreiche ihrer Entscheidungen mit deren angeblicher Alternativlosigkeit. Vielen Wählern stiess dies sauer auf. 2010 wurde «alternativlos» in Deutschland zum Unwort des Jahres gekürt und wenig verwunderlich ist auch der Name der neugegründeten Partei, die sich gegen die alternativlosen Rettungsprogramme für kriselnde EU-Staaten stellte: die Alternative für Deutschland (AfD).

Wer einer Demokratie abspricht, dass sie ihren Bürger*innen die Wahl zwischen verschiedenen Angeboten treffen lässt, greift das Wesen der Demokratie an und trägt unweigerlich zu ihrer Schwächung bei. Nicht zuletzt, weil dadurch die Deutungshoheit darüber, was demokratisch ist, den rechtsautoritären Wölfen im Schafspelz auf dem Silbertablett serviert wird. Paradoxerweise hat das mangelnde Demokratieverständnis der Eliten im Zuge der Finanzkrise Kräften Aufschub gegeben, denen dieselben Eliten nun billigen Populismus und ein mangelndes Demokratieverständnis vorwerfen.

Autoritärer Umbau des Staates

Die Rechtsautoritären wollen im Namen der Demokratie den europäischen Institutionen Macht entreissen und die nationalstaatliche Souveränität wiederherstellen. Ein Blick nach Ungarn oder nach Polen zeigt jedoch, dass die Rechtsautoritären, wenn sie einmal an der Macht sind, die Demokratie nicht stärken, sondern schwächen wollen. Verfassungsgerichte werden ausgehebelt, kritische Stimmen gezielt mundtot gemacht, wichtige Positionen werden mit Getreuen besetzt und Wähler*innen werden mit ständigen Verschwörungstheorien an der Nase herumgeführt. Der Staat wird nach ihren autoritären Vorstellungen umgebaut. Die Demokratie verkommt zu einem Applausometer für die Regierenden.

Eine Abgrenzung zu den Rechtsautoritären muss daher für alle demokratischen Kräfte Programm sein. Regierungsbeteiligungen machen ihre gefährlichen Positionen nur salonfähig. Versuche in Österreich und Italien zeigen, dass solche Experimente nicht funktionieren. Die Schwierigkeit dieser Abgrenzung besteht allerdings darin, dass Demokrat*innen ihr gleichzeitig nicht ihre ganze Aufmerksamkeit schenken dürfen. Die Erfolge der Rechtsautoritären führen vielerorts dazu, dass weder das linke noch das konservative Lager über eine Mehrheit verfügt, um ihr eigenes Programm zu verwirklichen. Wenn sich diese zwei Lager nun gegen die Rechtsautoritären verbünden, können sich die Rechtautoritären unter Umständen als einzige Alternative zum Status quo präsentieren. Das garantiert ihnen in jedem Wahlkampf einen Platz im Scheinwerferlicht.

Die Abgrenzung zu den Rechtsautoritären muss deshalb einhergehen mit einem Streit um klar unterscheidbare Visionen innerhalb des demokratischen Lagers. Davon war im Wahlkampf vor den Europawahlen wenig zu hören. Ansetzen müsste das demokratische Lager in erster Linie bei einer Demokratisierung der europäischen Institutionen. So wie diese momentan ausgestaltet sind, ist es gar nicht möglich, dass Wähler*innen mit ihrer Stimmabgabe einen direkten Einfluss auf politische Entscheidungen ausüben. Solange eine Partei Ideen zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen vorschlägt, eine Zustimmung zu diesen Ideen an den Wahlurnen aber gar nicht zur Umsetzung dieser Ideen führen kann, wird es schwierig, Wähler*innen für die Demokratie zu elektrisieren. Gleichzeitig sind die Wähler*innen die wichtigsten Antikörper, die dem demokratischen Immunsystem im Kampf gegen Viren wie den HitlerHerpes zur Verfügung stehen.

Quellen

Robert Misik: Halbe Freiheit. Warum Freihheit und Gleichheit zusammengehören. Edition Suhrkamp Digital.

Serge Halimi und Pierre Rimbert: Populistenmacher. Über das Ende liberaler Gewissheiten. Le Monde diplomatiche, 09/24. Jahrgang.

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