Ein Technokrat kann’s nicht richten
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Ein Technokrat kann’s nicht richten

Eigentlich lief alles bestens. Die Arbeitslosigkeit in Italien war so tief wie schon lange nicht mehr. Die Prognosen für das Wirtschaftswachstum verblüffend. Der Regierungschef Mario Draghi im eigenen Land beliebt und im Ausland geschätzt. Doch dann wurde Italien von seinen alten Geistern heimgesucht. Auf einmal war es wieder da, das gewohnte Bild des politisch instabilen Landes. Diese Instabilität bescherte dem Land seit der Gründung der Republik nach dem Zweiten Weltkrieg ganze 30 Ministerpräsidenten. Deutschland zählt in derselben Zeitspanne lediglich neun.

Die Dauer einer Regierung wird in Italien nicht in Jahren, sondern in Tagen gemessen. Draghis Regierung der nationalen Einheit überdauerte 546 Tage. Die Gründe für das Ende eines beliebten und erfolgreichen Regierungschefs sind vielfältig und nicht leicht zu verstehen. Sie haben mit der Ausgestaltung der politischen Institutionen, mit der politischen Kultur des Landes, aber auch damit zu tun, dass Draghi ein «tecnico» (Technokrat) und kein Politiker ist.

Blockadepolitik hat System

Um die politische Instabilität Italiens besser zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die Regierungsform, das Zusammenspiel der Institutionen und das Parteiensystem werfen. Italien ist wie Deutschland und das Vereinigte Königreich (UK) eine parlamentarische Demokratie. Im Unterschied zu einer präsidentiellen Regierungsform wie in den USA wählt das Volk das Parlament und dieses wiederum die Regierung und den Präsidenten. Die Regierung ist also für ihr Überleben auf die Zustimmung einer Mehrheit im Parlament angewiesen. Verknüpft sie Sachabstimmungen mit der Vertrauensfrage und verliert die Abstimmung, ist die Regierung Geschichte.

In Deutschland und dem UK führt eine verlorene Abstimmung in der Regel zu Neuwahlen. Deshalb wird die Vertrauensfrage selten gestellt. Wenn die Regierung in Italien das Vertrauen verliert, sucht das Parlament zuerst nach einer neuen Mehrheit. Die politischen Kosten sind geringer. Entsprechend oft werden Sachabstimmungen mit der Vertrauensfrage verknüpft. Mario Draghi hat seine Politik vor allem über Dekrete umgesetzt, welche sofort in Kraft traten. Das Parlament musste diese im Nachhinein absegnen. Oft waren diese Abstimmungen mit der Vertrauensfrage verknüpft.

Ein wichtiger Grund für diese Strategie Draghis ist die Beschleunigung der parlamentarischen Prozesse. Im Unterschied zu Deutschland und dem UK hat Italien zwei gleichberechtige Parlamentskammern. Dahinter steckt die republikanische Idee der «checks and balances», die Dominanz und Tyrannei verhindern sollen. Angesichts der faschistischen Vergangenheit des Landes eine noble Idee. Da jedoch nicht nur die Regierung, sondern auch jedes Gesetz die Zustimmung beider Kammern braucht, verlangsamt dies den Gesetzgebungsprozess enorm. Mächtigen Lobbyinteressen bietet ein solches Zweikammernsystem zudem mehr Möglichkeiten unliebsame Gesetze zu versenken.

Das Verschwinden des Stabilitätsankers

Blockadepolitik hat also System und der wichtigste Faktor ist wohl nicht das Zweikammernsystem, sondern die zersplitterte Parteienlandschaft. Ein fast pure proportionale Sitzverteilung führte schon in den Anfängen der Republik dazu, dass Regierungen auf instabile Koalitionen aus mehreren Parteien angewiesen waren. Das Mehrheitswahlrecht im Vereinigten Königreich führt dagegen fast automatisch zu einem Parteiensystem mit zwei starken Polen. Deutschland löste das Problem nicht zuletzt wegen der traumatischen Erfahrungen in der Weimarer Republik mit einer Fünfprozenthürde.

In der Republik Italien war dies lange Zeit ein vernachlässigbares Problem. Die Regierungen an sich waren zwar instabil und wechselten mehrmals in einer Legislaturperiode. Für Stabilität sorgte jedoch eine politische Kraft, die das Parteiensystem dominierte. Denn ohne die Democrazia Christiana konnte niemand regieren. Deshalb suchte diese Partei sich jeweils neue Koalitionspartner und regierte weiter, nachdem eine ihrer Regierungen gescheitert war. In den 90er Jahren erschütterte jedoch ein massiver Korruptionsskandal namens Tangentopoli diese Sonne unter den Parteien, um die alle anderen kreisten, und riss sie und andere Parteien mit ihr in den Abgrund.

Es folgte ein Parteiensystem mit einem Mitte-Rechts- und einem Mitte-Links-Lager, das bis zum Aufkommen der Fünfsternebewegung von Beppe Grillo Bestand hatte. Das De-facto-Monopol der Christdemokraten auf die Regierungsbildung war gefallen. Für die Korruptionsbekämpfung, aber auch aus einer demokratietheoretischen Perspektive sicher ein Gewinn. Allerdings war auch der Stabilitätsanker weg. Eine Stabilisierung über das Wahlgesetz wie in Deutschland oder dem Vereinigten Königreich, ist leider nie gelungen und der Grund liegt nicht allein in der Blockadepolitik.

Eigeninteresse vor Gemeinwohl

Italiens politisches System ist eine unheilvolle Mischung aus einer parlamentarischen Regierungsform mit Institutionen, die zur Blockade einladen, und einem zersplitterten Parteiensystem. Die parlamentarische Regierungsform funktioniert andernorts. An ihr muss nicht gerüttelt werden. Das Gefüge von Institutionen, die sich übermässig blockieren, und das Wahlgesetz liessen sich theoretisch ändern. Hier kommt jedoch der Faktor der politischen Kultur ins Spiel, der ungleich schwerer zu erklären ist als der institutionelle Rahmen.

Die politische Kultur eines Landes können wir als einen unsichtbaren Taktgeber verstehen, dessen sich ihre Protagonisten kaum bewusst sind. Es sind ungeschriebene Gesetze darüber, wie gestritten wird, welche Tabus im öffentlichen Diskurs existieren oder über den Umgang mit der eigenen Geschichte. In vielen Ländern gehört es zum Beispiel zur politischen Kultur, dass der Unterlegene das Ergebnis einer Wahl anerkennt und dem Sieger zur Wahl gratuliert.

Wahrscheinlich ist es in vielen Demokratien um das Gemeinwohl nicht zum Besten bestellt. Der Vorwurf, Politiker würden sich nur um ihre eigenen Interessen oder die Interessen ihrer reichen Geldgeber kümmern ist weit verbreitet. Aussergewöhnlich ist jedoch, dass ein Politiker Skrupellosigkeit als eine Maxime ausgibt, wie dies der langjährige Ministerpräsident Silvio Berlusconi getan hat. Berlusconi hat das Bild eines skrupellosen Hedonisten in seinem Fernsehimperium zelebriert und schnell Nachahmer gefunden.

Erik Gandini analysiert dieses Phänomen in seinem Dokumentarfilm «Videocracy», in dem er unter anderen Fabrizio Corona porträtiert. Dieser bezeichnet sich selbst als modernen Robin Hood, der als Paparazzo den Reichen Geld abknüpft, es aber nicht an die Armen weitergibt. Schliesslich ist er kein konservativer, sondern ein moderner Robin Hood. Einen grossen Teil seines Ruhms hat Corona sicher seinem Aussehen zu verdanken. Seine Skrupellosigkeit hat ihm jedoch mehr Türen geöffnet als dass sie ein Hindernis gewesen wäre. Diese Kultivierung von Lastern ist Gift für ein demokratisches Gemeinwesen, das sich auf Ideale der Legalität, der Fairness und des Gemeinwohls stützt.

Blockadepolitik und Skrupellosigkeit haben obsiegt

Im Januar 2021 war die Koalition aus der Fünfsternebewegung, den Sozialdemokraten und Matteo Renzis Kleinpartei an der Frage gescheitert, wie sie die Gelder aus dem europäischen Wiederaufbaufonds investieren sollten. Die Parteien im Parlament fanden in der Folge keine neue Regierungsmehrheit. Die Zeit für Neuwahlen fehlte, weil die EU einen Plan für die Verwendung der Gelder und darüber hinaus Reformen verlangte. In dieser schwierigen Situation erhielt Mario Draghi vom Staatspräsidenten Sergio Mattarella den Auftrag zur Regierungsbildung.

Draghis Regierung der nationalen Einheit gehörten alle grossen Parteien an. Der Regierungschef betonte immer wieder, diese breite parlamentarische Abstützung sei notwendig, da er kein gewählter Politiker sei. Gleichzeitig gab es dadurch im Parlament keine ernstzunehmende Opposition gegen ihn. Draghi hatte die Blockadepolitik des Parlaments und das faktische Veto kleiner Parteien mit seiner überwältigenden Mehrheit und einer Gesetzgebung über Dekrete ausgehebelt. Voraussetzung war jedoch, dass alle grossen Parteien mitspielten.

Die Frage wie lange dies noch gut gehen würde, stand schon länger im Raum. Insbesondere die Fünfsternebewegung von Giuseppe Conte war aufgrund mieser Umfragewerte unter Profilierungsdruck. Sie stellte überzogene Forderungen und drohte mit dem Entzug des Vertrauens. Damit löste sie eine Regierungskrise aus und lieferten der Rechten eine Steilvorlage, um die Regierung zu stürzen und Neuwahlen zu erzwingen, die sie laut Umfragen klar gewinnen würde. Das instabile Parteiensystem, Blockadepolitik und Skrupellosigkeit hatten obsiegt.

Ein Technokrat kann es nicht richten

Wahrscheinlich war aber auch einfach die Zeit des Technokraten Draghi abgelaufen. Er hatte einen Plan für die Verwendung der EU-Gelder, den PNRR, auf den Weg gebracht und für diesen Auftrag seine wichtigsten Trümpfe, sein Renommee und seine Kompetenz, ausgespielt. Für die zentralen Reformen, die mit diesem Plan verknüpft und von der EU gefordert wurden, war vor allem politische Überzeugungskraft gefragt. Insbesondere, weil diese Reformen Liberalisierungsschritte zum Ziel haben, die klar benennbare Verlierer produzieren. Es geht um hoch politische Fragen, die mehr verlangen als technokratische Kompetenz.

Draghi war zwar bereit politisch zu argumentieren, aber nicht politisch zu handeln. In seiner Rede vor der Vertrauensabstimmung im Senat hat er zwar klar dargelegt welche Reformen er umsetzen möchte und diese auch begründet. Er hat jedoch nicht politisch gehandelt, weil er keine Strategie erkennen liess, wie er die Parteien für dieses Programm ins Boot holen würde. Insbesondere die rechte Lega hat er für ihre Interessenpolitik gemassregelt. Diese Kritik mag zwar durchaus berechtigt sein, hört sich aber nicht wie eine Einladung an einen Partner an, mit dem man weiterregieren möchte.

Draghi war der Machtspiele der Parteien schon länger überdrüssig. Das ist angesichts von ernsthaften Problemen, politischer Blockade und eigennützigen Interessen verständlich, legt aber auch die problematische Natur der Technokratie an den Tag. Ohne Streit lässt sich auch der beste vor Kompetenz strotzende Reformplan nicht umsetzen. Die mitunter auch harte politische Auseinandersetzung ist integraler Bestandteil der demokratischen Kultur.

Umso verheerender erscheint dieses Problem der Technokratie, wenn man bedenkt, dass für Draghis liberale Reformen politisch nie eine Mehrheit bestand. Italien kennt keine liberalen Rechtsparteien und was von der Fünfsternebewegung übrig bleibt, ist eher linkspopulistisch zu verorten. Die einzigen wirklichen Verbündeten für ein solches Programm waren die Sozialdemokraten, die sich seit Jahren weitgehend an einem dritten Weg orientieren. Die Hoffnung, dass ein Technokrat Italien verwandeln kann, hat sich damit einmal mehr als eine Illusion entpuppt.

P.S. für Politnerds: Die formale Vertrauensabstimmung ist in Italien eher die Ausnahme. In der Regel entzieht eine Partei die Unterstützung und damit ist das Ende einer Regierung besiegelt.

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